Von Annegret Schwegmann

Sollte sich Jan Mallwitz einmal einsam fühlen, könnte er um den Bahnhof in Münster promenieren und würde prompt vielstimmig angesprochen. „Hallo, Herr Mallwitz, kennen Sie mich noch?“ In einer Disco ist ihm vor ein paar Jahren ein Bier über den Tresen gereicht worden, das er nicht bestellt hatte. Der 44-Jährige wollte der Irrtum gerade aufklären, als ihn der Mann zu seiner Rechten ansprach. „Das ist von mir, weil Sie damals nett zu mir waren.“ Damals, in einem der vier Blöcke der Justizvollzugsanstalt Münster.

Jan Mallwitz steht gerade dort, wo täglich um 6 Uhr sein Dienst als Justizvollzugsbeamter beginnt. Das Team der JVA bezeichnet den Raum gern als Zentralspiegel, als Herzstück quasi, der zu allen Flügeln der Anlage führt. Zu den beiden Zellenanlagen für den Strafvollzug, zum Trakt für Untersuchungshäftlinge und zum Schulflügel, in dem die in die Jahre gekommenen Schüler einsitzen, die im Gefängnis ihren Haupt- oder Realschulabschluss nachholen und manchmal auch das Abitur. Wenn er nach seinem Lieblingsplatz im Gebäudekomplex gefragt wird, dann nennt er diesen.

Kein Ort ist für ihn faszinierender als diese Schaltstelle, die alles auf einmal zeigt: Die Galeriegänge auf jeder Ebene, die Wendeltreppen, die zu den gebohnerten Gängen mit ihren stets im gleichen Abstand angeordneten Zellentüren führen. Und wenn man den Kopf ein wenig schräg legt, sind auch die Bilder in den Wandbögen zu sehen, die ein Insasse vor ein paar Jahren mit seinen Lieblingsansichten aus Münster dekoriert hat. Naive Malerei in Wattebauschfarben - was für ein Kontrast zum Gefängnisalltag.

Mallwitz hatte gerade seine Schlosser-Ausbildung beendet, als er in der Zeitung ein Stellenangebot der JVA sah. „Ich wollte mehr, war neugierig und ehrgeizig.“ Gut 20 Jahre ist das her, und bereut hat er seine Entscheidung — er versichert das überzeugend an keinem Tag. Nicht einmal dann, wenn in einem Trakt, den er gerade mit Kollegen betreut, ein schwer einschätzbares Gemenge aus Aggressivität, Mutlosigkeit und Langeweile wie eine leise Bedrohung brodelt. Und auch nicht, als ein Häftling ausholte und ihn mit der Klinge eines Einwegrasierers bedrohte. In diesem Moment hat er auf den Alarmknopf seines Wächterschutzgerätes gedrückt, mit dem er, wo immer er gerade ist, exakt lokalisiert werden kann.

Mallwitz ist ein höflicher Mann, einer, der mit sich und seiner Welt im Reinen ist und die Ansicht vertritt, dass jeder Mensch anständig zu behandeln ist. Wenn er, wie gerade jetzt, einen Häftling zu einem der Besprechungsräume bringen soll, dann klopft er zunächst an die Tür des Haftraumes und wartet ein paar Sekunden. „Für mich ist das eine Frage des Respekts“, sagt er. Vielleicht ist der Mann gerade nicht angezogen, eventuell wäscht er sich — „der Haftraum“, findet der 44-Jährige, „ist der intime Lebensraum der Häftlinge“. Manchmal für ein paar Monate, mitunter auch vier Jahre lang.

Mallwitz wartet, schiebt den Schlüssel ins Schloss und öffnet die Tür vorsichtig. „Wir würden uns nie gleich mit dem kompletten Körper in die Türöffnung stellen.“ Das wäre fahrlässig und könnte gefährlich werden.

Auf der Etage über ihm lässt ein Insasse eine Bohnermaschine über den Gang fahren - sehr gleichmäßig und sehr langsam. „Einer der vertrauenswürdigen Häftlinge“, sagt Mallwitz. Einer, der durch sein Verhalten gezeigt hat, dass er sich auch ohne Aufsicht durch den Flügel bewegen kann. Alle anderen werden von den 190 Mitarbeitern im allgemeinen Vollzugsdienst durch die Anlage geführt. Zum Arbeitsplatz, zum Sport oder zum Küchendienst.

Der Justizvollzugsbeamte begleitet einen Mann, der gleich helfen wird, das Mittagessen in die Hafträume zu bringen. „Rotkohl mit Püree und vegetarischer Bratwurst“, erläutert der Küchenchef den Speiseplan. Ein Häftling tunkt gerade eine Kelle in den 500- Liter-Bottich und lässt den Rotkohl in die Portionsschalen fallen. Ein anderer rollt das Kabel des Rührbesens auf, der eher an einen Bohrer als ein Küchenutensil erinnert. Enno Rademacher leitet seit Jahren die Küche und wird bei aller Routine nicht müde, sich an den Dimensionen der Zahlen zu berauschen: 190 000 warme Essen im Jahr für durchschnittlich 500 Häftlinge, wöchentlich 1400 Kilo Brot. Ein solcher Küchenbetrieb muss kompetent organisiert werden.

Dass Häftlinge dort mitarbeiten, ist ausdrücklich gewünscht — von allen Seiten. Derzeit ist nur die Hälfte der Insassen in den Werkstätten der JVA beschäftigt. Die Stehtische, die dort entstehen, sind frei verkäuflich. Etliche Schreibtische, Aktenschränke und Stühle, auf und mit denen Staatsanwälte und Richter arbeiten, sind in diesem Gefängnis entstanden. „Zum Jahresende wird die Auftragslage immer geringer“, sagt Mallwitz. Ausbleibende Aufträge sind Gift für das Klima im Gefängnis, denn die Arbeitsplätze in der JVA sind begehrt - nicht nur der Einnahmen wegen. Arbeit bringt Struktur in den Alltag. Sie ist die aktive Alternative zu Langeweile, an Zimmerwände-Starren und Aggression. Sport ist in der JVA nur in begrenzten Zeiten erlaubt.

Kontrolle in einem der Acht-Quadratmeter-Hafträu me. Sie sind tägliche Routine für Mallwitz und seine Kollegen. Das Geld, das die Häftlinge verdienen, wird oft und gern auch für illegale Drogen verwendet, vor denen sich kein Gefängnis schützen kann. Der 44-Jährige hat Drogen und unerlaubte Handys schon an den verblüffendsten Orten gefunden. In präparierten Zahncremetuben und Kugelschreibern, in den Rohren des Waschbeckens, gern auch eingenäht in den Bezug der Matratze. „Es gibt nichts, wo sich nicht irgendetwas verstecken lässt.“

Im Grunde genommen gehört auch diese detektivische Arbeit zu der Vielfalt, die Mallwitz an seinem Beruf so schätzt. An einer Aufgabe, die Mallwitz früher immer mal wieder erklären musste, wenn seine Kinder im Kleinkindalter die Frage nach dem Vater meistens so beantworteten: „Der ist im Gefängnis.“

 

Westfälische Nachrichten vom 08.11.2014